Rechtsstaat und Verfassung in Pandemiezeiten

In den letzten Monaten bestand durch das Corona-Virus eine Lage, die zu drastischen Einschränkungen des privaten und wirtschaftlichen Lebens führte.

 

In solchen Situationen ist es aus Sicht der JuLis natürlich gerechtfertigt, dass in Freiheitsrechte stärker eingegriffen wird, als außerhalb von Krisenzeiten. Doch hinter dem notwendigen Ziel der Pandemieeindämmung dürfen andere Grundrechte nicht vollständig zurücktreten und es muss – gerade aus liberaler Perspektive – genau darauf geachtet werden, dass die Funktionsfähigkeit der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat erhalten bleiben und nicht durch die Hintertür außerhalb der berechtigten Einschränkungen im Pandemiefall kupiert werden.

 

Trotz der nachfolgenden Kritik teilen wir JuLis insgesamt die Stoßrichtung der Maßnahmen, auch wenn wir einzelne Maßnahmen für überzogen und im Ergebnis unverhältnismäßig einstufen. Hinsichtlich einer drohenden zweiten Welle muss darauf geachtet werden, dass es nicht erneut zu unverhältnismäßigen Eingriffen kommt.

 

1. Krisenfester Schutz von Grundrechten auch in Pandemiezeiten

Die massiven Grundrechtseingriffe waren insbesondere deswegen notwendig, weil unser Gesundheitssystem nicht auf einen Pandemiefall eingestellt war. Der vorbeugende medizinische Katastrophenschutz muss daher, nicht nur in Hinblick auf die Schutzpflicht für Leben und körperliche Gesundheit, sondern auch, um die Intensität der Eingriffe im Pandemiefall zu verringern, deutlich besser ausgestattet werden und europaweit koordiniert werden, dazu gehört bspw. die ausreichende Bevorratung mit notwendigen medizinischen Material.

 

Für den Infektionsschutz ist eine Nachverfolgung von Infektionsketten zwingend erforderlich. Aus Sicht der JuLis dürfen Daten, die zu diesem Zwecke erhoben werden, aber auch nur zu diesem Zwecke genutzt werden. Eine andere Nutzung, insbesondere durch die Polizei, lehnen wir ab. Nicht nur stellt dies eine massive Ausweitung der Überwachung durch den Staat dar, sondern verringert auch die Datenehrlichkeit und gefährdet somit das Hauptziel des Infektionsschutzes.

 

Einschränkungen, die sichtbar keinen Einfluss auf die Ausbreitung der Pandemie haben, müssen schnellstmöglich aufgehoben werden. Zwar geht dies mit der Gefahr einher, dass Menschen den Überblick über die derzeit gültigen Einschränkungen verlieren, aber dies wiegt aus unserer Sicht nicht so stark, dass ein längeres Aufrechterhalten gerechtfertigt wäre. Vielmehr sollte der Unsicherheitsfaktor sehr wohlwollend bei der Bemessung der Bußgelder bei Verstößen berücksichtigt werden.

 

Der Spielraum geht aber unserer Ansicht nach nicht so weit, dass schlechthin nicht nachvollziehbare Regelungen von vornherein hinzunehmen sind. Ein Beispiel hierfür ist die Regelung, dass Läden bis zu einer Fläche von 800 qm öffnen durften.

 

Teilweise entsteht der Eindruck, dass unter dem Deckmantel des Infektionsschutzes Einschränkungen im beschleunigten Verfahren vorangetrieben werden, die sowieso geplant waren (wie bspw. das Cornerverbot) oder dass die Krise ausgenutzt wird, um unliebsame Branchen auszutrocknen (wie bspw. Sexarbeiter*innen und Shisha-Bars). Für uns JuLis ist klar, dass die Einschränkungen durch die Corona-Verordnungen nur befristet und nach dem Kriterium Infektionsschutz erfolgen dürfen.

 

Für viele Unternehmen – und damit nachgelagert auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – führten diese Maßnahmen aber zu starken Umsatzeinbrüchen, die insbesondere in der Gastronomie und anderen Wirtschaftszweigen, die auf Publikumsverkehr angewiesen sind, die Betriebe an den Rande der wirtschaftlichen Existenz drängten. Anders als in der Finanzkrise liegen hier die Gründe für die Notlage nicht im Unternehmen, sondern sind externe Faktoren. Unterstützungen sind aus unserer Sicht daher hier natürlich geboten.

 

Hinsichtlich der Unterstützung lässt sich jedoch feststellen, dass die Hilfeleistungen in den Bundesländern sich erheblich voneinander unterscheiden.

 

Die Art und der Umfang einer Gewährung von Zuwendungen, Beihilfen und Lastenausgleichen durch die deutschen Gebietskörperschaften an Unternehmen und Gewerbetreibende hat sich jeweils eng an der Härte und Intensität der erlittenen Einschränkung zu orientieren, die sich unmittelbar oder mittelbar  durch Anordnungen, Auflagen und sonstige Regelungen jeweils vor Ort ergaben. Jedwede Beihilfe im Kontext mit Covid19 darf weder mittelbar noch absichtlich zu Wettbewerbsverzerrungen und Wettläufen führen. Das muss allein schon aus Gründen der Fürsorge gegenüber den Empfängern von Beihilfen gelten, da die vielerorts betriebenen oder beabsichtigten Beilhilfen unter Verstoß gegen geltendes EU-Recht für diese zu existenzgefährdenden Rückzahlungsverpflichtungen führen würden. Anzustreben ist darüber hinaus langfristig eine Ergänzung des EU-Beihilferechts um Regelungen für Pandemielagen, die sich nicht lediglich auf einzelne Nationalstaaten beschränkt und ggf. auch angemessene gesonderte Verfahrensregelungen trifft.

 

Es widerspricht unserem Verständnis von fundamentalen Freiheitsrechten, dass in Deutschland Demos mit zwei Teilnehmern zwecks der Pandemiebekämpfung untersagt wurden. Bei Einhaltung von Mindestabständen und Hygienevorschriften, muss auch wenn sich die Infektionslage wieder verschärft, die Durchführung einer Demonstration möglich sein.

 

Die letzten Monate haben aber gezeigt, dass die Befürchtungen hinsichtlich der Vermummung von Demonstrierenden unbegründet waren. Die JuLis setzen sich für das Recht auf eine friedliche anonyme Demonstration ein. Sollte bereits im Vorwege gesicherte Erkenntnisse über den wahrscheinlich unfriedlichen Verlauf der Versammlung vorliegen, soll ein Vermummungsverbot angeordnet werden können. Um der Polizei einen höheren einsatztaktischen Spielraum zu geben, sprechen wir uns dafür aus, das Vermummungsverbot als Ordnungswidrigkeit zu regeln, damit die Polizei ein Ermessen zum Einschreiten hat und nicht zum Einschreiten gezwungen ist.

 

2. Gewaltenteilung auch bei höherer Gewalt

Die Einbindung des Parlaments ist auch in Pandemiezeiten aus Sicht der JuLis unerlässlich. Insbesondere aufgrund der Intensität und der Streubreite der Maßnahmen verbietet es sich hier, lediglich auf Verwaltungsebene zu agieren und massiv einschneidende Maßnahmen auf Generalklauseln zu stützen.

 

Die Einbeziehung des Parlaments steht aber Kraft Natur der Sache im Zielwiderspruch der Pandemiebekämpfung. Einerseits hinsichtlich der Geschwindigkeit der parlamentarischen Beratung im Vergleich zum Agieren über Allgemeinverfügungen und Verordnungen, aber – anders als bspw. bei anderen Katastrophenfällen, wie Sturmfluten – auch dadurch, dass die Mitglieder der Legislative selbst das Virus weiterverbreiten könnten.

 

Teilweise führte dies dazu, dass Parlamente, wie z.B. die Hamburgische Bürgerschaft in reduzierter Besetzung getagt haben, oder dass über längere Zeit Sitzungen ausfielen, wie es bei vielen kommunalen Parlamenten und auch für die Bezirksversammlungen in Hamburg der Fall war.

 

Dies mag im letzten Jahrtausend vielleicht noch zeitgemäß gewesen sein. Aber in Zeiten, in denen es ohne großen Aufwand, wie viele Unternehmen, Vereine und Bildungsträger in den letzten Wochen gezeigt haben, möglich ist, Präsenzveranstaltungen in den digitalen Raum zu verlagern, ist es nicht nachvollziehbar, warum dies für unsere Parlamente nicht möglich ist.

 

Für Abgeordnete, die zur Risikogruppe gehören, oder nahestehende Personen haben, die zur Risikogruppe zählen, muss zudem die digitale Teilnahme an Präsenzsitzungen ermöglicht werden.

 

In Zeiten von Kontaktbeschränkungen muss zudem sichergestellt werden, dass die Öffentlichkeit weiterhin Zugang zur parlamentarischen Beratung erhält. Dafür reicht es nicht aus, dass ein Live-Stream und eine Mediathek für die Plenarsitzung eingerichtet ist, da so der Hauptteil der parlamentarischen Arbeit, die vertiefte Auseinandersetzung im Ausschuss, fehlt. Auch hier muss eine Übertragung aller Ausschüsse sichergestellt werden.

 

Die Pandemielage verlangt vom Parlament innerhalb kürzester Zeit weitreichendste Maßnahmen zu beschließen. Eine vertiefte Auseinandersetzung der Parlamentarier, die bei der Intensität der Eingriffe geboten gewesen wäre, konnte hier aufgrund des bestehenden Zeitdrucks nicht stattfinden.

 

Folglich ist für uns JuLis klar, dass alle Akte des Parlaments, die in dieser Zeit verabschiedet wurden ein Ablaufdatum haben und im Parlament erneut vertieft parlamentarisch beraten werden müssen, sobald die Lage es zulässt. Jedes Gesetz, jeder Entschließungsantrag und jede Positionierung, die derart in Freiheitsrechte eingreift und nur so oberflächlich beraten werden konnte, hat unserer Ansicht nach eine ungeschriebene Sunset-Klausel.

 

Weiter folgt aus dieser Art der parlamentarischen Beratung, dass dies keine Zeit ist die eigene politische Agenda im Schnellverfahren durchzudrücken. Dem kann beispielsweise durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit begegnet werden.

 

Grade in pandemiebedingten Zeiten, die durch eine faktisch starke Dominanz der Exekutive gegenüber der Kontrollfunktion der Legislative geprägt sind, kommt der Judikative als Dritte der geteilten Gewalten eine noch höhere Bedeutung zu.

 

Das gilt in ganz besonderer Weise für einen effektiven Rechtsschutz der Grundrechtsträger gegenüber einer eskalierenden Vielzahl an intensiven Grundrechtseingriffen. Hier muss bei der Ressourcenzuteilung, wie auch bei den Strukturen, auch bzw. gerade in pandemischen Zeiten, für ausreichende Kapazitäten der Verwaltungs- und Verfassungsgerichte gesorgt werden, um in Lagen, wie im Kontext Covid19, die bundesweit vielen hunderten oder gar tausenden parallel laufenden Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz noch so ausreichend schnell bearbeiten zu können.

 

Nur dann ist rechtsstaatlich gesichert, dass den Grundrechtsträgern ein Rechtsschutzerfolg noch faktisch nützten kann und ggf. nicht nur zu vagen Amtshaftungsansprüchen führt.

 

Die Exekutive ist hingegen in pandemischen Lagen in ganz besonderer Weise gefordert, durch möglichst rechtstreues Verwaltungshandeln und schlüssige wie valide Begründungen von Verwaltungsakten die Gerichte von unnötig provozierten Verfahren zu entlasten, sowie durch jeweils sorgfältige Erwägung vom Instanzenweg im Zweifelsfall nur zurückhaltenden Gebrauch zu machen.

 

Die Gewaltenteilung beschränkt sich aber nicht lediglich auf die horizontale, sondern auch auf die vertikale Ebene. Immer wieder kam in den letzten Wochen von unterschiedlichen Seiten der Wunsch auf, alle Kompetenzen zentral zu bündeln.

 

Wir JuLis bekennen uns aber zum Föderalismus. Nur durch die unterschiedlichen Systeme, kann optimal auf die Situation vor Ort eingegangen werden und festgestellt und evaluiert werden, welche Maßnahmen wirklich wirksam sind.

 

Natürlich sind Abstimmung und gemeinsame Koordinierung der Maßnahmen notwendig. Hier ist nicht nur der Dialog zwischen Bund und Ländern, sondern vielmehr auch der zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten zu intensivieren.

 

Föderalismus heißt für uns aber nicht, dass jeder Mitgliedsstaat oder Bundesland jedes Mittel ergreifen kann. Insbesondere solche Maßnahmen, die den Zusammenhalt zwischen den Ländern schwächen können, sind kontraproduktiv. Damit meinen wir vor allem den leichtfertigen Umgang mit Grenzschließungen und die Ausweisung von Menschen, die in dem Bundesland keinen Erstwohnsitz haben. Die Freizügigkeit innerhalb der Union ist eine Errungenschaft, die nicht so unüberlegt über Bord geworfen werden darf. Dass die Freizügigkeit sogar innerhalb des Bundesgebietes in Frage steht, haben wir bis vor kurzem noch für unmöglich gehalten.